Menschen an der Memel

Martin Rosswog und Ulla Lachauer

Menschen an der Memel

 

Gut fünfzehn Jahre nach der Wende in Europa bin ich mit dem Fotografen Martin Rosswog an die Memel gereist. Im August 2006 und im April 2007 haben wir über Wochen erkundet, wie sich die Region auf beiden Seiten des Stroms verändert hat.

Für mich war es ein Wiedersehen mit einer sehr vertrauten Welt. „Hauptquartier“ auf der litauischen Seite war die „Paradiesstraße“, das Haus der Lena Grigoleit, in dem heute ihr Enkel Mindaugas mit seiner Familie lebt. Wie wohnen sie, wie wirtschaften sie? Das rundum erneuerte Bauernhaus war kaum wiederzuerkennen, davor moderne Traktoren – eine dynamische junge Familie. Andere Häuser im Dorf Bitenai dagegen, zum Beispiel das der ehemaligen Kolchosarbeiterin Eugenia Steponaitiene, erschienen vom Wandel in Europa beinahe unberührt.

Auf der russischen Seiten der Memel, in Sowjetsk, dem ehemaligen Tilsit, war die sowjetische Zeit manchmal noch ganz nahe. Nur ein Katzensprung ist es bis dorthin, auf den ersten Blick Verfall und Hoffnungslosigkeit, auf den zweiten auch Anfänge gesellschaftlichen Wandels. Eine alte Mathematiklehrerin, Sinaida Rutman, die für die Sanierung des Mietshauses kämpft, in dem sie jahrzehntelang lebt. Eine rußlanddeutsche Sippe, die gerade aus Kasachstan zugesiedelt war, voller Elan. Menschen, die trotz Armut ihre Würde bewahrt haben, wie der Wachmann Krawtschuk in der Zellulose-Fabrik. Besonders interessant für uns erwies sich der Vergleich der Bauernhöfe am russischen und am litauischen Ufer: Während Lena Grigoleits Enkel nach EU-Norm wirtschaftet, sind die Aljoschins in der Memel-Niederung ganz auf sich gestellt, sie vermarkten selbst, und bei Hochwasser hilft ihnen niemand.

Zehn Porträts in Bildern und Texten sind auf diesen ethnografischen Reisen zu zweit entstanden. Zu jedem dieser Menschen, zu jeder Familie eine Geschichte sowie Fotografien der Landschaft, die sie umgibt, des Hauses und – das ist Martin Rosswogs besondere Kunst – Innenräume: Küche und Wohnzimmer, mal ein Arbeitsplatz, mal eine Sommerküche.

Manche Fotos erzählen ganze Romane, sie sind sprechend und poetisch zugleich.

PRESSESTIMMEN:

„…ein Grenzland zwischen den Mächten ohne eigene Identität und ohne auffällige Reize. So gesehen erscheint es fast verwegen, dass Ulla Lachauer zusammen mit dem Fotografen Martin Rosswog ausgerechnet diesen Landstrich zum Gegenstand einer „Untersuchung“ machte. Aber das Ergebnis ist faszinierend. Zunächst die Bilder: Sie zeigen eine kleine, bescheidene Welt, wie sie im gutsituierten Westen längst Vergangenheit ist, bewohnt von Menschen, die sich auf ein hartes, ärmliches Leben eingerichtet haben. Der Fotograf versucht dabei, nicht zu romantisieren, sondern dokumentiert mit kühler Distanz, und gerade deshalb erzeugt er berührend intensive Eindrücke. Dann Rosswogs Tagebuchaufzeichnungen: In einem einfachen Ton gehalten, korrespondieren sie stilgerecht mit den Fotos und verknüpfen die Schicksale diesseits und jenseits der Memel mit den nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewaltsam geschaffenen Verhältnissen.“ FAZ

Die Vergangenheit ist ein anderes Land.