Der neugierige Affe
Ein Schlüsselbuch meiner KindheitDer neugierige Affe
Ein Held aus Kindertagen kehrt zurück
Jahrzehntelang hatte ich nicht an ihn gedacht. Dann tauchte er wieder auf – der kleine Affe auf dem verbeulten Rad, und zwar in Litauen, im März 1990, in einem fürchterlich schwarzen Augenblick. Ich saß heulend auf einem Stein an der Chaussee. Der Bus, auf den ich wartete, kam wegen des Hochwassers der Memel nicht durch. Auf einmal war das Äffchen aus meiner Kindheit da.
Coco hieß er. Vielleicht war Coco auch eine sie – wie die Dame Chanel, deren Mode meine Tanten verehrten. Mir war das damals herzlich egal, wichtig war, dass der Affe ein Fahrrad hatte, das blau war und haargenau wie meins. Oder andersherum, Coco hatte so eins wie ich, meins war eher da. Es stand plötzlich im Dezember 1956 auf dem Hof meiner Großeltern, wohin ich ausquartiert wurde, weil meine Mutter mal wieder ein Kind bekam. Ich radelte, erst mit Stützrädern, bald ohne, durchs nasskalte Wetter, stürzte und radelte – ein großartiges Gefühl der Freiheit. Ich war fünfeinhalb, Älteste von nun vier Geschwistern, zum ersten Mal genoss ich, dass alle Aufmerksamkeit den Kleinen galt und ich allein war.
Zwei Jahre später, als ich lesen konnte und „Coco fährt Rad“ geschenkt bekam, stellte ich verwundert und beglückt fest: Es gab diese Erfahrung schon, das blaue Fahrrad, die Abenteuerlust, die Missgeschicke unterwegs. Zwar war der ewig neugierige Affe ein Waisenkind, von dem „Mann mit dem gelben Hut“ aus dem afrikanischen Urwald geholt worden. Aber war ich das irgendwie nicht auch? In dem Gefühl existentieller Verlassenheit, das ich erstmals bewusst empfand, tröstete mich ein Buch.
Sein Umschlag war leuchtend gelb, pastellfarben die Bilder drinnen, der Text erfrischend knapp. Am liebsten mochte ich die Geschichte, wie Coco mit dem neuen blauen Fahrrad Zeitungen austragen hilft und er, von Übermut gepackt, Schiffchen daraus faltet. Derweil die papierne Flotte den Bach hinunter schwimmt, begleitet er sie am Ufer, stolz wie ein Admiral, und radelt gegen einen dicken Stein. Kopfüber fliegt er aus dem Sattel. Das Vorderrad hat eine Riesenbeule, er weint sich die Augen aus, und da kommt ihm die Erleuchtung: Ich kann doch auf e i n e m Rad fahren! Einem Cowboy gleich, dessen Pferd sich aufbäumt, fährt Coco auf dem Hinterrad weiter.
Genau dieses Bild sah in diesem grauen litauischen März wieder vor mir. Es war so Tag, an dem einem die ganze Welt auf den Kopf zu fallen scheint. So etwas passiert bekanntlich, in diesem Fall gab es dafür sogar Gründe. Zwei Wochen hatte ich alte Memelländer, die am Ende des Zweiten Weltkrieges in der Heimat geblieben waren, nach ihrem Leben befragt. An besagtem Tag schon drei, diese Besuche lagen mir auf der Seele – und ebenso schwer im Magen. Denn die traurigen Geschichten begleiteten immer gebratene Stinte. Eine Delikatesse hierzulande, die fetteste Fischart unter der Sonne, die bevorzugt im März gefangen wird, für meinen Geschmack ganz abscheulich. Stinte und danach jedes Mal klebrig süße Torte, mir war hundeelend. Ich probierte alle Rezepte, die üblicherweise helfen: Vaterunser aufsagen – auf Deutsch, „und erlöse uns… Amen!“. Dann auf Lateinisch, was eine tolle Konzentrationsübung ist. Schließlich fünf bis zehn Mal so laut wie möglich den trotzigen Satz von Scarlett O‘ Hara rufen „Tomorrow is another day!“
Vergebens, sogar mein praktischer Verstand ließ mich im Stich, der mir hätte sagen müssen: Los marsch! Auf einer vom Hochwasser abgeschnittenen Landstraße kommt keiner. Such dir ein Bett im nächsten Dorf! Ich saß auf dem Stein an der Bushaltestelle und fror. In meiner Lethargie bemerkte ich das Knattern erst, kurz bevor das Motorrad anhielt. „Ich nehm Sie mit“, erbot sich der alte Mann, offenbar ein Kolchosarbeiter. Er wollte in Richtung Westen, meinem Ziel entgegengesetzt, in ein Städtchen direkt am Memelufer. „Keine Bange“, lachte er, „auf der Chaussee steht das Wasser nicht mehr als einen halben Meter hoch.“
Warum ich aufstieg? Jedenfalls kam mir, während ich, an den Mann geklammert, versuchte, wenigstens meinen Rucksack mit den Tonbändern trockenzuhalten, Coco in den Sinn. War es nicht herrlich, so zu fahren? Auf einem klapprigen Motorrad sowjetischen Typs. Soweit das Auge reichte, moddrig braunes, vom Wind gekräuseltes Wasser. Ich war plötzlich neugierig. Wie weit würden wir kommen? Ganz gleich, es würde gut ausgehen. Das war das zweite Bild in der Geschichte von Coco, das mich als Kind beindruckte: Nach jedem Abenteuer schloss ihn der „Mann mit dem gelben Hut“ in die Arme. An die weit ausgebreiteten Arme erinnerte ich mich jetzt, an die Geste, nicht an sein Gesicht.
Der März 1990 blieb auch weiterhin aufregend. Litauen hatte am 11. des Monats seine Unabhängigkeit erklärt. Nach Wochen des Herumreisens in der entlegenen Memelregion verbrachte ich noch einige Tage in der Hauptstadt Vilnius, im von sowjetischen Panzern umstellten Parlament. Ein Blutbad schien unmittelbar bevorzustehen. Merkwürdigerweise hatte ich nur wenig Angst. Irgendwie trug mich eine kindliche Abenteuerlust und Zuversicht durch diesen historischen Frühling.
Zur Zeit der Wende in Europa, der intensivsten, schönsten und herausforderndsten meiner Journalistenlaufbahn, kam der Affe Coco in mein Leben zurück. Und er blieb. Seither denke ich ab und zu an das erste, mir erinnerliche, selbstgelesene Buch und an die Situation von damals. Mit sieben oder acht, glaube ich, formt sich die Persönlichkeit eines Menschen, und dem Lesen kommt dabei, zumindest in unserer Kultur, eine zentrale Bedeutung zu. Meiner Erinnerung nach erhielten in diesem Alter mein Weltbild, die Selbstverständlichkeiten, in denen ich mich bewegte, erste Risse. Die Religion zum Beispiel, das kann ich genau datieren – es war im Oktober 1958, als Pius XII. starb. Ich kam aus der allwöchentlichen Vorbereitungsstunde für die erste heilige „Kommion“ (so sagten wir in Westfalen), und unser Kindermädchen sang beim Abwaschen ein freches Lied: „Der Papst ist tot, der Papst ist tot, alle Katholiken sind in Not.“ Sie war evangelisch, was ich bis dahin nicht wusste, und weil ich diese Ella gern hatte, prägte sich mir ein, dass man über unseren Papst verschiedener Meinung sein konnte.
Die andere, noch wichtigere Geschichte betraf die Autorität der Schule. In der zweiten oder dritten Klasse, draußen lag viel Schnee, hatte Lehrer Börste angekündigt, anderntags würde der Bernhardinerhund durchgenommen, wir sollten uns schon mal freuen. Vor Aufregung konnte ich nachts kaum schlafen – endlich, endlich würde ich erfahren, worüber ich mir schon lange den Kopf zerbrach, wie nämlich die klugen Hunde den Stöpsel aus dem Schnapsfässchen kriegen. Was der Lehrer erzählte, verblüffte mich maßlos. Der Alkohol sollte für die unter der Lawine Verschütteten sein? Gottseidank hatte ich nicht gleich direkt gefragt und mich blamiert. Doch stärker als die Scham über mein Unwissen war der Impuls zur Rebellion. Ich war tief beleidigt, und ich beschloss insgeheim, meiner Frage weiternachzugehen. Meine Phantasie über die liebenswürdigen schnapstrinkenden Hunde erschien mir interessanter als die Wirklichkeit. Mit den Bernhardinern begann meine Distanz zur Schule. Sie vergrößerte sich bald – mit der vierten Grundrechenart, die einfach nicht in meinen Kopf wollte. Statt zu rechnen, schätzte ich, multiplizierte zur Probe und gab, wenn es nicht stimmte, ein bisschen ab oder zu. Das klappte meistens. Ich war mir sicher, der Mensch kann ohne Dividieren durchs Leben kommen.
Die Kraft zur Eigenständigkeit kam – nicht allein, aber ganz wesentlich – aus dem inneren Raum, den Bücher mir öffneten, in dem ich, die Leserin, schalten und walten, weinen und träumen konnte. Mit Coco, meinem ersten Idol, hatte ich ziemliches Glück. Kann es eine freundlichere Lebensphilosophie geben als: losradeln und, was immer geschehen mag, vertrauen, dass ich ankomme? Sein wie Coco! Womöglich half er mir, den nächsten Helden zu verkraften? Camus‘ Sisyphos, und den übernächsten, den Schriftsteller Max Frisch, die mich in die schreckliche Vergangenheit einführten, die man damals „die jüngste“ nannte, und Themen der Moderne.
„Coco fährt Rad“, mein erstes Buch, ergab kürzlich eine Umfrage per e-mail in meiner Familie, ist nicht, wie ich glaubte, verschollen. Sondern weitergewandert nach Frankreich, zu den Zwillingen meines Bruders nach Montpellier. Mittlerweile ist es wieder bei mir, ziemlich zerfleddert, es müffelt, um nicht zu sagen: stinkt! Nach Stockflecken und weiß der Himmel wonach. Ich finde es nach wie vor bezaubernd. Und erst jetzt bemerke ich: Das Buch hat ja einen Autor! Ein Kind interessiert nicht, wer da geschrieben und gemalt hat, hätte mich früher jemand danach gefragt, ich hätte vermutlich geantwortet: „natürlich Coco“.
H. A. Rey heißt der begnadete Illustrator. Winzig klein ist vorn im Buch vermerkt, dass die Originalausgabe 1944 im Verlag Houghton Miffin Compagny/ Boston erschien, unter dem Titel „Curious George rides a bike“. Mein Coco ist also der berühmte, unter Kindern in aller Welt bekannte George. Die Erfindung der Figur des neugierigen Affen, seine publizistische Biografie ist, wie ich weiter herausfand, mit der deutschen Tragödie verbunden, mit der ich mich so oft beschäftigt habe. Das Buch hat nicht nur einen Schöpfer, sondern zwei, ein Ehepaar, wie man in USA sagt, ein „husband-and-wife-team“: Hans Augusto Rey, geboren 1898 in Hamburg (in Hagenbecks Tierpark lernte er Affen zeichnen) und seine Frau Margret, geborene Waldstein, auch sie eine Hamburgerin. Die beiden heirateten in den dreißiger Jahren in Chile, blieben dann am Ort ihrer Hochzeitsreise, in Paris, ein Weilchen hängen. Am 14. Juni 1940, Stunden bevor die deutsche Wehrmacht Paris eroberte, flohen sie, da sie als Juden um ihr Leben fürchten mussten, Richtung spanische Grenze. Auf Fahrrädern – im Gepäck hatten sie einige Manuskripte, unter anderem die Geschichte über den Affen. In der für Frankreich bestimmten Originalversion hieß er damals noch – und auf der ganzen langen Reise über die Pyrenäen, Lissabon, Brasilien bis nach New York – „Fifi“.
Aus: Verführung zum Lesen, Zweiundfünfzig Prominente über Bücher, die ihr Leben prägten, hg. von Uwe Naumann, Reinbek 2003 (Rowohlt)